„Der Einsatz lohnt sich“: Warum der gebürtige Schweinfurter Frank Weber sich seit 40 Jahren in Bolivien für Straßenkinder engagiert

„Der Einsatz lohnt sich“: Warum der gebürtige Schweinfurter Frank Weber sich seit 40 Jahren in Bolivien für Straßenkinder engagiert

CoCHABAMBA / SCHWEINFURT – Aus einem Studienjahr in Bolivien ist für Frank Weber aus Schweinfurt eine Lebensaufgabe geworden: Was vor 40 Jahren mit einem Haus für Straßenkinder begann, entwickelte sich zu einem Sozialwerk mit Schwerpunkt schulische Ausbildung und Familienhilfe.

Wie es dazu kam, welche Hindernisse es zu überwinden gab und was er für die Zukunft plant, erzählt er im folgenden Interview.

POW: Herr Weber, wie kam es dazu, dass Sie sich um Straßenkinder in Bolivien kümmern?

Frank Weber: Ich habe Anfang der 1980er Jahre in Würzburg Theologie studiert, unter anderem mit dem heutigen Domvikar Professor Dr. Petro Müller. Im Rahmen meines Studiums kam ich dann 1985 nach Bolivien, nach Cochabamba. Ich wollte eigentlich Priester werden, aber der liebe Gott hat wohl anderes vorgehabt. Ich habe die Straßenkinder der Stadt kennengelernt.

POW: Was müssen wir uns unter dem Begriff „Straßenkinder“ vorstellen?

Weber: Es sind die Kinder, die auf der Straße leben und wohnen. Sie verbringen ihre Zeit losgelöst von Familien.

POW: Sind das Waisenkinder?

Weber: Die wenigsten. Viele laufen von zu Hause weg, weil es dort viel familiäre Gewalt gibt. Oder aber sie gehen auf die Straße, um für ihre Familie Geld zu verdienen. Weil aber die Familie oft weit weg von der Stadt wohnt, fahren sie nicht immer nach Hause, sondern bleiben in der Stadt, schließen sich anderen Gruppen an und werden dann zu Straßenbewohnern. Sie wohnen meistens in Gruppen zusammen. Sie schlafen in den Straßen und den Parks auf Parkbänken und Pappkartons. Sie leben von dem, was andere wegwerfen, oder sie betteln. Andere stehlen oder organisieren Überfälle. Das ist ganz verschieden und kommt auf das Alter an. Viele von ihnen nehmen Drogen, um den Hunger zu vergessen. Bolivien ist bekannt als Land der Drogenproduktion. Daher werden Drogen verhältnismäßig billig verkauft. Kinder werden als Drogenkuriere eingesetzt und für ihre Dienste mit Drogen entlohnt. Das schafft Abhängigkeiten. Übrigens: Wenn die Heranwachsenden Geld haben und davon etwas zu essen kaufen, kommt der Hunger bald wieder. Wenn sie aber etwas Kokainsulfat oder Kokain konsumieren, spüren sie weder Schmerzen noch Kälte noch Hunger.

POW: Wie sind Sie zu diesen Kindern gekommen? Wie haben Sie denn einen Draht zu ihnen gefunden?

Weber: Die warten ja nicht unbedingt darauf, dass irgendjemand aus Deutschland kommt (lacht). Ich bin täglich von meiner Wohnung zur theologischen Fakultät gelaufen. Da musste ich an einem Boulevard entlang. Dort war eine Wiese, auf der morgens immer Kinder lagen. Ich habe sie gesehen, aber bin an ihnen vorbeigegangen. Ich dachte mir aber: Was könnte ich groß tun? Ich spreche deren Sprache nicht. Ich habe selbst kaum Geld, bin ja Student.

POW: Offensichtlich haben Sie sich aber damit nicht zufriedengegeben.

Weber: Eines Tages habe ich die Kinder dann doch mal angesprochen. Ich bin auf sie zugegangen, habe gefragt: Habt Ihr Hunger? Die guckten mich an, als wäre ich ein bisschen doof, und haben gesagt: Klar haben wir Hunger! Wir essen Abfall und Reste. Und Du fragst uns, ob wir Hunger hätten. Zufällig hatte ich Brot im Rucksack. Das Brot habe ich diesen Kindern nicht einfach nur gegeben und bin dann weiter. Das wäre ja das Naheliegende gewesen. Ich habe mich dazugesetzt, das Brot ausgepackt und habe es aufgeteilt. Von dem Tag an blieb ich dann Tag und Nacht etwa vier Monate auf der Straße und habe mit den Kindern das Leben geteilt.

POW: Das war vermutlich ein hartes Leben.

Weber: Ich habe gesehen, welche Probleme die Straßenkinder haben: mit der Polizei, die sie ausnimmt, mit Anwohnern, die sie beschimpfen, mit den Gaststättenbesitzern, die sich um ihre Kundschaft sorgen, wenn Kinder kommen und am Tisch betteln. Da habe ich gemerkt, dass es nicht genug ist, mit diesen Kindern auf der Straße die Nächte und ein bisschen Essen zu teilen, sondern dass Kinder ein Zuhause brauchen, wenn sie denn eine Chance im Leben haben sollen.

POW: Was war Ihre Konsequenz aus dieser Erkenntnis?

Weber: Ich habe mit meinen Ersparnissen ein Haus gekauft, genauer gesagt eine Ruine ‒ ohne Strom- oder Wasseranschluss. Es gab keine Fenster und Türen, keine Fußböden. Das Dach war undicht. Die ersten zwei Jahre haben wir unter diesen schlechten Bedingungen gelebt. Aus Deutschland bekam ich anfangs nur gute Ratschläge. Es wurde mir oft gesagt, dass man alles anders machen müsste. Aber ich war doch vor Ort, mitten im Geschehen. Ich habe versucht, alles aufrechtzuhalten. Das ist gelungen. Dann habe ich gemerkt, dass auch ein Dach überm Kopf und einigermaßen regelmäßige Mahlzeiten nicht wirklich genug sind.

POW: Was meinen Sie damit genau?

Weber: Wenn Kinder tatsächlich eine Chance für die Zukunft haben sollen, dann braucht es schulische Ausbildung. So habe ich zweieinhalb Jahre später, 1988, die erste und bis heute die einzige Privatschule in Bolivien gegründet, die Kinder aus sozial schwachen Familien aufnimmt, kostenfrei ist und sie zum Abitur führt. Aus den ersten 40, 50 Kindern in der Schule ist inzwischen eine Schule mit rund 600 Schülern und Schülerinnen geworden, die von 43 Lehrern unterrichtet werden

POW: Wie finanzieren Sie das Projekt?

Weber: Wir sind bis heute unabhängig von staatlichen und kirchlichen Institutionen. Ich habe einen treuen Freundeskreis, in Deutschland wie auch in Bolivien. In Schweinfurt wurde der Verein „Straßenkinder-Hilfe“ gegründet. Das ist ein wichtiges Standbein. Petro Müller ist übrigens eines der Gründungsmitglieder. Daneben machen wir Theaterstücke, Musikstücke, Musiktheater ‒ sowohl in Deutschland und den Nachbarländern als auch in Bolivien selber. Zudem habe ich zahlreiche Bücher geschrieben, die sich bislang gut verkaufen. Das erste Buch war eine Vaterunser-Interpretation, also noch sehr nah an meiner Theologiezeit dran. Dann habe ich aber auch Kinderbücher verfasst, die die Probleme von Familien und Kindern in kindgerechter Sprache aufgreifen.

POW: Hätten Sie bei Ihrer ersten Begegnung mit den Straßenkindern gedacht, dass sich daraus etwas Derartiges entwickelt?

Weber: (schüttelt den Kopf) Nein. Kaum hatte ich den Kontakt aufgenommen, dachten die Kinder, ich sei ein Journalist, der nur kommt, um sie auszuhorchen, oder gar ein von der Polizei eingesetzter Spitzel. Irgendwie hat sich aber das gegenseitige Vertrauen ziemlich schnell aufgebaut. Ich habe den gleichen Fraß zu mir genommen wie sie. Das hat wirklich Überwindung gekostet und ich will das auch im Nachhinein nicht idealisieren. Ganz ehrlich: Ich wollte das nicht noch einmal in dieser krassen Weise machen. Den Kindern wurde schnell klar, dass es mir ernst war mit meiner Hilfe und Sorge um sie. Anfangs waren sie sehr misstrauisch und nannten mir erfundene statt ihrer richtigen Namen. Das hat sich aber dann gegeben. Sieben Kinder schlossen sich mir anfangs an, daraus wurden 13, später 23, für die ich der Erziehungsberechtigte war.

POW: Geht das so einfach?

Weber: Das war eine komplizierte Angelegenheit. Jedenfalls habe ich 25 Kinder großgezogen. Viele von ihnen sind heute verheiratet und haben selbst Kinder – und so habe ich 29 Enkelkinder. Manche tragen meinen Namen. Es gibt inzwischen so viele Franks in Bolivien (schmunzelt). Daran sieht man, dass da wirklich Familie gewachsen ist. Einer meiner Jungs, der mit fünf Jahren zu mir kam, ist heute an meiner Schule Schulsozialarbeiter. Er studierte an der Katholischen Hochschule in Cochabamba Sozialpädagogik. Es zeigt sich: Der Einsatz hat sich immer gelohnt und lohnt sich weiterhin. Wie oft habe ich gehört: Welch ein Aufwand. Straßenkinder bleiben Straßenkinder. Aber genau so ist es eben nicht. Jeder hat eine zweite und, wenn es sein muss, eine dritte oder vierte Chance verdient, solange er sich selbst müht und Einsatz bringt.

Nähere Informationen im Internet unter strassenkinderhilfe.de. Spendenkonto: Straßenkinderhilfe e.V., Sparkasse Schweinfurt, IBAN DE35 7935 0101 0000 0233 33, BIC BYLADEM1KSW.

Interview: Markus Hauck (POW)

Auf dem einen Bild © Centro Educativo Richard von Weizsäcker | Frank Weber bei einer Abiturfeier seiner Schule.

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