WÜRZBURG – Wo beginnt eine Grenzüberschreitung? Welche Strategien nutzen Täter – und wie können sich junge Menschen schützen? Um diese und ähnliche Fragen ist es bei einem Präventionsworkshop am Röntgen-Gymnasium Würzburg gegangen.
Geleitet wurde der Workshop von Kerstin Schüller, Leiterin der Stabsstelle Prävention und Intervention des Bistums Würzburg, und Referentin Laura Beckers. Eingeladen hatte sie dazu Franziska Lutz, katholische Religionslehrerin der Klassen 9 b, c und d.
„Es ist ein sensibles Thema. Wer gehen möchte, geht bitte in die Räume der Offene Ganztagsschule (OGS) rüber“, erklärt Schüller zu Beginn der zweistündigen Veranstaltung. Zur Einstimmung in das Thema laden sie und Beckers die 16 Jungen und Mädchen ein, ein paar Einschätzungen abzugeben. Auf der einen Seite am Boden liegt ein Blatt mit der Aufschrift „Okay“, einige Meter weiter eines mit „Nicht okay“. Alle sind eingeladen, sich aus dem Bauch heraus dort hinzustellen, wo sie es für richtig halten. „Es herrscht kein Gruppenzwang“, betont Beckers.
Ist es okay, wenn jemand einem wiederholt auf die Schulter klopft, obwohl man ihn bittet, das zu unterlassen? Was, wenn jemand einen anflirtet? Wenn nach einem ersten Kennenlernen das Gegenüber ungefragt einen Zungenkuss gibt? Schnell zeigt sich, dass die Ansichten nicht bei allen gleich sind. Ist das wiederholte Klopfen auf die Schulter ein Spaß unter Freunden? „Ein Nein ist ein Nein. Punkt“, macht eine Schülerin ihren Standpunkt klar. „Es kommt darauf an, ob ich den Typen kenne“, sagt eines der Mädchen. Ähnlich gehen die Meinungen beim Flirten auseinander. Einig ist sich die Gruppe aber darin: „Kein körperlicher Kontakt ohne ein Okay.“
„Jeder hat das Recht zu sagen, wenn etwas für ihn nicht in Ordnung ist. Ihr seid aber gleichzeitig aufgefordert, aufeinander aufzupassen. Manchmal ist jemand auch in einer Situation verängstigt oder überfordert“, erklärt Schüller. Gerade auf Letzteres zielten Täter oft ab. „Sie testen die Grenzen aus, um diese nach und nach auszuweiten.“ Beckers erklärt, dass bei Missbrauchsfällen nach dem Öffentlichwerden das Umfeld oft sehr betroffen reagiere und sich frage: „Warum haben wir das nicht schon früher gemerkt?“
Mädchen geben sich laut Schüller oft selbst die Schuld, wenn sie von einem Täter an die Wand gedrückt und geküsst werden, nur weil sie diesen vielleicht vorher einmal umarmt haben. Deswegen sei es wichtig, eine Sprache zu entwickeln, die klar benenne, was passiert. „Nur dann kann ich mein Umfeld fragen, wenn mir etwas komisch vorkommt. Was für mich normal ist, muss für andere noch lange nicht normal sein.“
Beckers erklärt der Klasse den Unterschied zwischen einer Grenzverletzung und einem Übergriff: Wenn jemand unbeabsichtigt jemanden anderes berührt, zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln, so sei das eine Grenzverletzung. Passiere das wiederholt und die tatgeneigte Person ignoriere vielleicht noch zusätzlich ein Nein, dann sei das ein Übergriff. „Oft sagen die Täter dann ‚Stell Dich nicht so an.‘ Damit wollen sie aber kaschieren, dass sie eine Grenze übergangen haben.“ Schüller hebt hervor: „Es ist immer ein Übergriff, wenn Eure seelischen und/oder körperlichen Grenzen mit sexuellem Hintergrund überschritten werden.“
Als die Frage gestellt wird, wie sich die Schülerinnen vor sexuellen Übergriffen schützen, kommt eine Vielzahl von Antworten: Tier-Abwehr-Spray in der Handtasche, geteilter Standort, ein kleines Verteidigungswerkzeug am Schlüsselbund, Telefonieren auf dem Heimweg. „In mehr als 90 Prozent der Fälle kommt der Täter aus dem persönlichen nahen und weiteren Umfeld. Es ist nur in einem bis fünf Prozent der große Unbekannte im Park“, erklärt Schüller. Dennoch formulieren einige Mädchen aus der Runde, was sie in der Öffentlichkeit entspannter allein unterwegs sein lässt: Wenn Männer nicht direkt auf sie zugehen, ihr Gesicht nicht unter einer Kappe verbergen und im Zweifelsfall einfach auch auf die andere Straßenseite wechseln.
Der Täter aus dem Umfeld komme jeweils zu einem Viertel aus der Familie, dem näheren Umfeld, beispielsweise der Busfahrer oder Trainer, aber auch aus Institutionen wie Schule und Kirche, oder – seit Corona verstärkt – aus Kontakten übers Internet. „Letztere sind den Betroffenen oft bis dahin noch nie persönlich begegnet“, sagt Beckers. In allen anderen Fällen sei der Missbrauch für die Betroffenen auch deswegen besonders schmerzhaft, weil sie die Person bis dahin praktisch immer als ausgesprochen vertrauensvoll erlebt hätten. „Sicher ist: Jeder Übergriff ist geplant“, erklärt Schüller den Jugendlichen. Dieser werde oft mit langem Vorlauf angebahnt.
Zum Beispiel, indem der Täter eine aufwändige Geburtstagsfeier organisiere, den Betroffenen durch Sonderrollen, -rechte, Geschenke oder vermeintliche besondere Hilfe aus der Gruppe abspalte. Oft sei die Ausrede der Täter dann, dass die Betroffenen ja für sexuelle Handlungen ihre Zustimmung gegeben hätten. „Niemand unter 14 Jahren kann rechtlich seine Zustimmung dazu geben.“ Wie Schüller ausführt, wurden 2024 bundesweit rund 16.354 Fälle sexuellem Missbrauch von Kindern unter 14 Jahren polizeilich registriert. „Man geht davon aus, dass die Dunkelziffer um den Faktor zehn bis 20 darüber liegt.“ Das Bistum Würzburg setze schon länger auf Risikominimierung. So müssen alle haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter regelmäßig ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen. Zudem seien für sie alle ausführliche Präventionsschulungen verpflichtend.
mh (POW)
Auf dem Bild © Markus Hauck (POW) | Kerstin Schüller (pinkfarbenes Sakko) und Laura Beckers (links daneben) im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern des Würzburger Röntgen-Gymnasiums. Links neben Beckers Religionslehrerin Franziska Lutz.