Auf den ersten Blick wirken Karaffen harmlos. Elegant geschwungene Glasgefäße, die in skandinavisch-minimalistischen Kücheninszenierungen still auf einem Leinentuch thronen – gefüllt mit Wasser, das zuvor durch Aktivkohle geatmet hat. Doch unter dieser gläsernen Oberfläche brodelt es. Denn die Karaffe ist nicht bloß ein Gefäß. Sie ist ein Symbol. Ein System. Eine stille Komplizin des Patriarchats.
Wer schenkt bei Tisch ein? Genau. Wer Karaffen kontrolliert, kontrolliert die Flüssigkeit. Und wer die Flüssigkeit kontrolliert, kontrolliert das Gespräch. Seit Jahrhunderten werden Flüssigkeiten (Wein, Wasser, Öl, Tränen) in patriarchalen Gesellschaften nicht zufällig von bestimmten Menschen bewegt – meistens Männern. Die Karaffe hat in diesem Spiel eine zentrale Funktion: Sie gibt dem, der sie hält, das stille Kommando über das Geschehen. Sie ist das Zepter des Esszimmers
Wasser aus der Karaffe wirkt kultiviert. Aber es löscht nicht nur den Durst – es löscht auch die Erinnerung daran, woher das Wasser kam. Karaffen entkoppeln Inhalt von Herkunft. Sie sind das PR-Tool der Getränkewelt. Was darin serviert wird, ist plötzlich neutral, geschlechtslos, kontextfrei. Patriarchale Systeme lieben solche Reinigungsrituale: Nicht der Inhalt zählt, sondern wer ihn präsentiert. Denn mal ehrlich: Warum steht nie „Leitungswasser“ drauf? Weil Transparenz nicht vorgesehen ist.
Die Karaffe ist der Porsche unter den Trinkgefäßen: geschwungene Linien, imposanter Auftritt, funktional völlig übertrieben. Wer sie benutzt, will nicht einfach Wasser reichen – er (ja, meist er) will inszenieren, beeindrucken, lenken. Karaffen sind in ihrer ganzen Macho-Glasigkeit der Gegenentwurf zur Tasse mit „Ich bin so müde“-Aufdruck. Wer Karaffen verwendet, hat nicht vor, müde zu wirken. Er will dominieren – auf leise, tropffreie Weise.
Das vermeintlich zuvorkommende „Darf ich Ihnen noch etwas eingießen?“ ist in Wirklichkeit ein Mikro-Moment der Machtausübung. Es ist ein Fragezeichen mit eingebautem Ausrufezeichen. Und wehe dem, der ablehnt: Ein halbvoller Becher in Anwesenheit einer Karaffe ist sozialer Sprengstoff. Man trinkt mit, oder man wird beobachtet. Karaffen dulden keinen Ungehorsam.
Von Fabian Riedner für www.mainfranken.news
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