„Wir sind verantwortlich, hier und jetzt!“: Schweigemarsch durch die Würzburger Innenstadt erinnert an jüdische Opfer der Deportationen durch die Nationalsozialisten vor 84 Jahren

„Wir sind verantwortlich, hier und jetzt!“: Schweigemarsch durch die Würzburger Innenstadt erinnert an jüdische Opfer der Deportationen durch die Nationalsozialisten vor 84 Jahren
Bild © Kerstin Schmeiser-Weiß (POW)

WÜRZBURG – An die erste Deportation von Jüdinnen und Juden aus Würzburg am 27. November 1941, vor genau 84 Jahren, haben am Donnerstagabend, 27. November, die Gemeinschaft Sant’Egidio und die Israelitische Kultusgemeinde erinnert.

Vom „GedenkOrt Deportationen“ am Würzburger Hauptbahnhof zogen nahezu 150 Menschen mit Kerzen in den Händen durch die Innenstadt zum Rathaushof. Einige trugen Schilder mit den Namen der nationalsozialistischen Konzentrationslager, in denen jüdische Menschen aus Unterfranken getötet wurden. Die Veranstaltung stand unter dem Motto „Zukunft braucht Erinnerung“.

Oberbürgermeister Martin Heilig erinnerte sich in seiner Ansprache im Rathaushof an seine Begegnung mit der Familie Katzmann, die im Sommer dieses Jahres zu Besuch in Würzburg war. Alfred Katzmann sei in der Reichspogromnacht am 10. November 1938 gestorben, seiner Witwe Hedy und dem Sohn Hanns 1941 die Flucht nach Amerika gelungen. Der Enkel, Gary Katzmann, habe für das Engagement der Stadt für Erinnerungskultur und Menschenwürde gedankt. „Es war für mich bewegend zu erleben, wie aus Hass in der Vergangenheit Wertschätzung, Versöhnung und Verständigung in der Gegenwart werden können“, sagte Heilig. Aus heutiger Sicht erscheine es unfassbar, wie viele Menschen aktiv an den Deportationen mitgewirkt hätten. Noch viel mehr hätten geschwiegen und seien dem Schicksal der Jüdinnen und Juden gleichgültig gegenübergestanden. Jeder müsse sich fragen: „Würde ich heute anders handeln? Was bedeutet ,Nie wieder!‘ für uns als Gesellschaft?“ „Nie wieder“ bedeute, selbst aktiv zu werden und sich für eine offene, liberale und demokratische Gesellschaft einzusetzen, betonte Heilig: „Jeder Einzelne muss aufstehen und sich einsetzen!“

Vladlena Vakhovska vom Gemeindevorstand der Israelitischen Kultusgemeinde überbrachte die Grüße von Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie erinnerte in bewegenden Worten an die erste Deportation vor 84 Jahren, bei der 202 jüdischen Männer, Frauen und Kinder in den Tod geschickt wurden. „Jedes Jahr rufen wir uns diese Nacht ins Bewusstsein. Und jedes Jahr spüren wir, wie schwer dieser Gang ist und wie notwendig. Wir erinnern, um zu erkennen, welche Verantwortung wir heute tragen.“ Der Antisemitismus sei lauter geworden und trete wieder offener hervor, sagte Vakhovska. Für Jüdinnen und Juden in Deutschland sei das ein tiefer Einschnitt. Umso wichtiger sei das, was am heutigen Tag sichtbar werde: „Es ist ein Zeichen dafür, dass heute viele an der Seite der jüdischen Gemeinschaft stehen. Ein Zeichen, dass wir gemeinsam Verantwortung tragen, wenn die Grenzen des Unsagbaren verschoben werden und Respekt in Frage gestellt wird.“ Gedenken sei keine Pflichtübung, sondern ein moralischer Auftrag, betonte Vakhovska: „Vor 84 Jahren hatten die Deportierten keine Stimmen, die sie schützten. Heute haben sie uns. Wir schulden ihnen, dass wir nicht schweigen, nicht angesichts von Hass und Gleichgültigkeit.“

Seit 25 Jahren werde in Würzburg mit einem Schweigemarsch an die Deportation der Juden gedacht. „Ist dieses Ritual noch zeitgemäß? Ja, mehr denn je!“, sagte Pfarrerin Angelika Wagner von der Gemeinschaft Sant’Egidio. Erinnerung sei keine Rückschau, sondern „ein Schutzwall gegen das Wiederholen des Geschehenen“ und verpflichte, wachsam zu bleiben für die Zukunft, zitierte sie den Auschwitz-Überlebenden Primo Levi. Fast ein Viertel der Menschen in Deutschland zweifele grundlegende historische Tatsachen an, 39 Prozent wünschten sich ein Ende des Erinnerns. Doch das Gedenken an die Shoah sei unverzichtbar. „Wenn Erinnerung erlischt, verlieren wir die Fähigkeit, Hass rechtzeitig zu erkennen.“ Wagner begrüße das geplante Holocaust-Bildungszentrum von Yad Vashem in Bayern. Doch Bildung allein reiche nicht: „Verantwortung bedeutet, auf den eigenen Ton zu achten. Zu widersprechen, wenn Menschen herabgesetzt werden. Das Gespräch zu suchen, auch wenn es unbequem ist. Menschen wahrzunehmen, die heute Angst haben, weil sie Juden sind, weil sie anders aussehen oder anders leben. Nicht ,die anderen‘ sind verantwortlich. Wir sind es, hier und jetzt!“

„Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht, was Geschichte eigentlich für uns bedeutet“, sagte Noah Wunderlich von der Jugendorganisation von Sant’Egidio. Geschichte sei nicht einfach vorbei, sie frage: „Was macht ihr heute? Wofür steht ihr ein?“ Es liege auch an den Jugendlichen, ob die Zukunft dunkel oder hell werde. Dafür brauche es den Mut, nicht wegzuschauen, zu vergeben und einander zu respektieren. Nicht nur an die Geschichte zu erinnern. „Lasst sie uns als Warnung verstehen und als Motivation, es besser zu machen“, plädierte Wunderlich. „Das sind wir den Menschen schuldig, die damals alles verloren haben, und auch uns selbst.“ Anna von Egidy las aus dem Buch „Und doch ein ganzes Leben“ der Auschwitz-Überlebenden Helga Weiss vor. Darin erinnerte sich Weiss, wie sich Kinder vor den Gaskammern in fremde Baracken flüchteten und alle in Todesangst auf die Schüsse draußen lauschten: „Ich dachte, das ist das Ende.“ Und wie eines Morgens die Rufe „Frieden! Frieden!“ durch das Lager hallten – „wir haben es geschafft, wir haben den Krieg überlebt“.

Die Koffer am „DenkOrt“ vor dem Hauptbahnhof seien keine „vergessenen Koffer“. Sie gehörten zu Menschen, die gezwungen wurden, alles hinter sich zu lassen, und die als Opfer der menschenverachtenden Ideologie der Nazis umgebracht wurden, sagte Weihbischof Paul Reder in seinem Grußwort. „Heute stehen diese Koffer nicht verlassen, weil Sie hier stehen.“ Die Kundgebung setze ein Zeichen gegen das Vergessen und ein mitmenschliches Zeichen für die Gegenwart und Zukunft. „Die zurückgelassenen Gepäckstücke rufen besonders in Erinnerung, dass für niemanden sein Glaube und seine Herkunft ein Sicherheitsrisiko bedeuten darf“, sagte der Weihbischof. „Darum wollen wir gemeinsam Sorge tragen, dass Menschen, die unter uns jüdischen Glauben und jüdisches Leben teilen, Solidarität, Sicherheit und Wertschätzung erfahren. Gesellschaftlicher Zusammenhalt dient allen. Spaltung durch Hetze und Ausgrenzung dient nur wenigen. Unfrieden dient niemand.“

Stichwort: Deportation der Würzburger Juden am 27. November 1941

Am 27. November 1941 wurde die erste größere Gruppe von Juden aus Würzburg deportiert. Seit dem 1. September 1941 war die Polizeiverordnung der nationalsozialistischen Behörden in Kraft, wonach Juden in der Öffentlichkeit mit einem Judenstern gekennzeichnet sein mussten. In Würzburg wurde ein Merkblatt bezüglich der „Evakuierung“ an die Betroffenen verteilt. Darin wurde ihnen mitgeteilt, dass ihr gesamtes Vermögen beschlagnahmt ist und sie in einer Erklärung eine Aufstellung ihres Vermögens anzugeben hatten. Sie mussten sich mit Marschverpflegung ausrüsten, die für mindestens drei Wochen ausreichend sein sollte. Ein Transportkoffer mit maximal 50 Kilogramm Gewicht sollte zum Güterbahnhof Aumühle gebracht werden; Transportkosten von 60 Reichsmark waren zu zahlen. Die Nazibehörden zögerten nicht, Anweisungen zu geben, aus denen zu ahnen war, dass die Empfänger des „Merkblattes“ ihre Würzburger Heimat wohl nicht wiedersehen würden: Leitungen waren abzustellen, Gas- und Lichtrechnungen sollten bei den städtischen Werken bezahlt werden, Wohnungsschlüssel mussten der Polizei übergeben werden. In der Stadthalle, die auch Schrannenhalle genannt wurde und am heutigen Theaterplatz stand, hatten sich die 202 Männer, Frauen und Kinder einzufinden. Sie wurden genauestens durchsucht; jegliches Bargeld und Wertgegenstände wurden ihnen abgenommen. Dann wurden sie ins Sammellager Nürnberg-Langwasser und von dort nach Schirotawa bei Riga gebracht. Ihr weiteres Schicksal kann man nicht rekonstruieren. Es wird vermutet, dass sie Opfer der zwischen Februar und August 1942 in Riga durchgeführten Erschießungskommandos der Sicherheitspolizei wurden.

sti (POW)

Auf dem Bild © Kerstin Schmeiser-Weiß (POW) | An die erste Deportation von jüdischen Menschen aus Würzburg durch die Nationalsozialisten am 27. November 1941 erinnerte ein von der Gemeinschaft Sant’Egidio und der Israelitischen Kultusgemeinde organisierter Schweigemarsch durch die Innenstadt.

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