EISINGEN IM LANDKREIS WÜRZBURG – Sein aufmerksamer Blick wandert immer wieder durch den Raum. Er bleibt an dem Mann hängen, der mit einer „Auto-Motor-Sport“-Zeitschrift in der Hand durch den Wohnbereich schlurft. Er wandert weiter zu dem Weißhaarigen, der einen Stuhl nach dem anderen auf den Tisch räumt.
Es ist ein ruhiger Dienstagvormittag. Seit sieben Jahren sind dieser Wohnraum und seine Bewohner Georgi Hauschilds (28) berufliche Heimat – und sein Herzensprojekt: die Senioren-Wohngruppe „Eva Huth“ in der Behinderteneinrichtung Sankt-Josefs-Stift in Eisingen (Landkreis Würzburg).
Hier versorgt der Heilerziehungspfleger mit seinem Team täglich die neun Bewohner im Alter von 30 bis 79 Jahren. Er wäscht sie, macht ihnen Essen und hört sich ihre kleinen Wünsche an. Doch in letzter Zeit muss der Gruppenleiter sich sogar bei der Bitte um einen Ausflug zum Supermarkt immer wieder fragen, ob die Zeit reicht. Ob sein Team das leisten kann. Ein Besuch bei einem, der vor den Fragen steht: Braucht es mehr Personal oder weniger Bürokratie in der Behindertenpflege? Wie viel Plausibilität steckt in den Dokumentationspflichten des Bundes? Und wie lange hält ein Einzelner an Idealen fest?
„Da müssen wir eigentlich alle Augen und Ohren überall haben“
Ein Schreien aus dem Treppenhaus lässt Hauschild aufhorchen. Der Heilerziehungspfleger, der im Wohnraum gerade noch auf die Wochenübersicht geschaut hat, rennt los. Einer der Bewohner braucht Hilfe an der Treppe. Sie wird renoviert, und so kann der Bewohner seinen üblichen Weg nicht hinaufgehen. Hauschild fährt zu ihm nach unten, beruhigt ihn, erklärt, dass er heute den Aufzug nehmen muss. Das sei Teil des Jobs, sagt er: „Da müssen wir eigentlich alle Augen und Ohren überall haben.“ Auch oder gerade dann, wenn eine Person alleine die Männer betreut.
Das ist morgens oft der Fall. Erst etwas später kommt die zweite Schicht dazu, hilft beim Mittagessen und den anfallenden Aufgaben. Insgesamt wechselt sich Hauschild in der Gruppe gerade mit einem weiteren Heilerziehungspfleger ab. Zudem helfen Auszubildende und vier Hilfskräfte, meist Quereinsteiger in Teilzeit, um die Bewohner tagtäglich zu betreuen. Da trifft es die Gruppe „Eva Huth“ noch verhältnismäßig gut. An den Fachkräftemangel haben sich in der Behinderteneinrichtung Sankt-Josefs-Stift viele Gruppen gewöhnen müssen. Hauschild sagt, er sei froh, ein Team zu haben, das zusammenhält. Froh, „noch einen Bereich zu haben, den man gut entwickeln und formen kann“. Und froh, wenig Krankheitsfälle zu haben. So schaffen sie es, „irgendwie den Dienst aufrecht zu erhalten“.
Willi S., ein 60 Jahre alter Bewohner in der Gruppe „Eva Huth“, setzt sich zu Hauschild an den Tisch. „Erdnüsse will ich noch kaufen“, verkündet er. Der Pfleger schaut von seinem Laptop auf. „Beim Rewe?“, fragt Hauschild nach und: „Hast du keine mehr?“ Willi klingt ein wenig niedergeschlagen, als er mit Nein antwortet. Der Pfleger atmet gespielt erschrocken auf. Das müssten sie dringend ändern, verspricht er. Gleichzeitig weiß er: Ob er es diese Woche noch schafft, ist ungewiss. Auf ihn warten Büroarbeiten und das tägliche Programm. Für kleine Ausflüge zum Rewe, um für Willi S. Erdnüsse und eine Milch zu kaufen, bleibt da selten Zeit. Auch wenn der Bewohner von diesen Ausflügen mit einem ähnlich breiten Lächeln zurückkommt, mit dem er nun noch einmal erzählt: „Das ist so schön, ich liebe Erdnüsse.“ Hauschild lächelt, doch er seufzt: „Ja, wir müssen welche kaufen.“
Auch den Ausflug ins Schwimmbad, den sich Thorsten S. seit zwei Jahren wünscht, musste Hauschild heute Morgen wieder absagen. Als Rettungsschwimmer würde er es sich sogar zutrauen, mit bis zu drei Bewohnern ins Schwimmbad zu gehen. Doch wer passt in der Zwischenzeit auf die anderen auf? Sind die Bewohner fit genug? Und hat Hauschild nach neun Tagen im Dienst noch die Lust und Kraft, den Ausflug zu planen? Die Wünsche der Bewohner seien klein. Dennoch kann Hauschild nicht direkt zusagen. Er muss sie vertrösten. „Das ist immer der Zwiespalt“, sagt er.
Arbeitsalltag in der Behindertenpflege zwischen Empathie und Bürokratie
Als Leitung trifft Hauschild der Zwiespalt doppelt. Er muss den Dienstplan erstellen, Medikamentenlisten pflegen, Telefonate führen, Azubis einlernen. Und seit einiger Zeit verschwindet er noch häufiger in seiner kleinen Büroecke neben dem Wohnraum. Nicht nur er, auch sein Team. Der Grund: die Dokumentation. Statt nur bei besonderen Vorkommnissen müssen die Betreuerinnen und Betreuer mittlerweile morgens und abends aufschreiben, wie es den einzelnen Bewohnern geht. Sie halten fest, wie sie die Bewohner betreuen. 20 bis 30 Minuten braucht das etwa jedes Mal – je nachdem, wie viel sie schreiben, erzählen Hauschild und sein Team. Die Zeit für die Bewohner konkurriert mit der Zeit für die Bürokratie. Doch Hauschild macht klar: Wenn ein Bewohner Hilfe benötigt, verlässt er umgehend das Büro und seine Aufgaben am Laptop.
Manchmal siegt auch der Idealismus. „Wenn ich Zeit habe, schreibe ich manche Dokus mit den Männern zusammen“, erzählt Hauschild. Er wünscht sich, dass die Männer wissen, dass er über sie schreibt. Und es sei schöner zu lesen, „wenn der Willi selber sagt, ihm geht es gut“. Schließlich war das auch die Motivation, aus der Hauschild die Ausbildung zum Heilerziehungspfleger vor etwa sieben Jahren begonnen hat: „Mit den Menschen hier zu arbeiten“, sagt er.
Natürlich sei es auch anstrengend, wenn täglich neue Herausforderungen warten – zum Beispiel, weil die neugestrichene Treppe einem Bewohner zum Hindernis wird. Gleichzeitig schätzt der Leiter diese Abwechslung. Er hat das Gefühl, sich dadurch selbst immer weiter zu entwickeln. „Wir arbeiten mit Menschen, die ihre Emotionen haben, ihre Gefühle haben, wie wir auch“, erzählt Hauschild. Und die Bewohner zeigen ihre Gefühle direkt. „Das sind unsere Barometer, ob es hier läuft oder nicht.“ So bekommen die Betreuer quasi den Spiegel vorgezeigt: Wie die Stimmung im Team ist und wie sie mit den Bewohnern umgehen, wenn Stress und unerwartete Ereignisse die Arbeit dominieren. Und die gibt es in einer Wohngruppe wie der „Eva Huth“ gar nicht so selten.
Das Telefon klingelt. Hauschild sitzt noch vor den beiden Bildschirmen, er reicht den Hörer an seine Kollegin Corinna Fella weiter. Sie ist Hilfskraft und heute bis zum Nachmittag eingeteilt. „Dann besprechen wir das gleich“, sagt sie, bevor sie auflegt. Eine andere Wohngruppe hat sich gemeldet. Sie brauchen Unterstützung bei der Essensausgabe am Abend. Dass Hauschild und sein Team spontan zum Aushelfen beordert werden, kommt immer wieder vor, wenn Mitarbeitende krank sind. Auch in der eigenen Gruppe gibt es diese Planänderungen. So wie vor ein paar Monaten, als die Betreuer wegen eines mittlerweile ehemaligen Bewohners einige Zeit in Doppelbesetzung arbeiten mussten. Das hat zusätzliche Überstunden produziert.
Wie kann die Zukunft in der Behindertenpflege aussehen?
Was also braucht es, um die Arbeit in der Behinderteneinrichtung weiterhin zu ermöglichen? „Personal sowieso“, sagt Hauschild. Gleichzeitig sieht der Pfleger die Bürokratie zweischneidig. „In manchen Sachen ist es überstrukturiert und in anderen Sachen fehlt die Richtung.“ Denn eine grundlegende Bürokratie brauche es, um die Arbeit zu strukturieren. Inge Schönmann, Referentin für Kommunikation im Sankt-Josefs-Stift, teilt mit, dass die Dokumentation im Stift wichtig sei, um die Menschen zu betreuen. Sie mache Handlungen nachvollziehbar und transparent. Gleichzeitig zeigten sich die Bedürfnisse der Bewohner, auch ob sich daran etwas ändert und wo Abläufe verbessert werden könnten.
Aber warum muss morgens und abends dokumentiert werden? Manchmal scheitert es wohl auch an der Nachvollziehbarkeit. Gelegentlich, wenn Hauschild seinen Teammitgliedern wieder eine neue Regelung erklären soll, die er selbst nicht versteht, fragt er sich: „Warum tue ich‘s?“ Die politischen Entscheidungen, die die Einrichtung ausführen muss, seien für die Pfleger in den Gruppen oftmals nicht nachvollziehbar, sagt Hauschild. Bei jeder Veränderung treffen zwei Extreme aufeinander. Auf der einen Seite braucht es Neuerungen, um mit der Zeit zu gehen. Teils kommen viele Änderungen auf einmal, die mit der Zeit die Effektivität steigern sollen. Auf der anderen Seite liegt der Gedanke nahe, der auch bei Hauschild immer wieder auftaucht: „Wenn es einfach funktioniert, ist es in den aktuellen Zeiten schon mal gut.“
Veränderung, die braucht es wohl auch in der Personalgewinnung. Daher engagiert sich das Sankt-Josefs-Stift mit der Tatenwerk-Schwestereinrichtung, der Robert-Kümmert-Akademie, für die Gewinnung neuer Auszubildender in der Heilerziehungspflege. Unter anderem mit Bildungsgutscheinen und internationalem Recruiting sollen Quereinsteiger und Neulinge zu Fachkräften ausgebildet werden. Auch die bayerischen Zugangsvoraussetzungen für die Ausbildung wurden kürzlich leicht gesenkt. Das teilt Schönmann mit. Meist fehlten vor allem die Fachkräfte. Aber das Thema Personal ist komplex. Da spielt auch die Finanzierung mit rein. Schließlich könne die Einrichtung keine neuen Kräfte einstellen, die nicht refinanziert werden, sagt Schönmann. Denn der vom Bezirk Unterfranken vorgegebene Personalschlüssel ist erfüllt. Hierfür ist genug Personal vorhanden. Im aktuellen Schlüssel seien die Krankheitsquote in der Branche und weitere Faktoren aber zu gering berücksichtigt, schreibt Schönmann. Die Einrichtung verhandele über einen realitätsgetreuen Personalschlüssel.
Hauschilds Einschätzung für seine eigene Gruppe lautet: Wenn sie weiterhin gut zusammenarbeiten und den Fokus behalten, „des Bewohners im Mittelpunkt als auch des Teams im Mittelpunkt, schaffen wir das noch relativ lang“. Der Beruf selber sei super. Wenn er mal überlegt habe zu wechseln, dann nie den Beruf selbst. Aber vielleicht in ein anderes Land, mit weniger Vorgaben.
Aktuell denkt Hauschild nicht darüber nach zu wechseln. Er will bleiben – für sein Team und seine Bewohner, die die Wohngruppe teils seit über 50 Jahren ihr Zuhause nennen. Noch investiert er die Überstunden gerne. Kann spontan wegfahren, um den Kopf freizubekommen. Noch hat er keine Kinder, keine Partnerschaft. So macht er Überstunden, um tagsüber mehr Zeit mit den Bewohnern zu verbringen oder Willi S. doch noch die Erdnüsse vorbeizubringen.
Stichwort: Rechtliche Regelungen zur Dokumentation
Die Dokumentation in Behinderteneinrichtungen dient der Qualitätssicherung. Sie wurde 2016 deutschlandweit durch das Bundesteilhabegesetz geregelt. Dieses wurde laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales in vier Reformstufen bis 2023 umgesetzt. Unter anderem ist dort festgehalten, dass Leistungserbringer „vergleichende Qualitätsanalysen“ durchführen sollen. Diese sollen mit „zielgerichteten und systematischen Verfahren“ die „Qualität der Versorgung gewährleisten und verbessern“. Daraus müssen die Einrichtungen konkrete Anweisungen für ihre Mitarbeitenden entwickeln.
Die Regelungen sind beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter bmas.de und im Sozialgesetzbuch im neunten Buch nachzulesen – unter Paragraph 37 (Qualitätssicherung, Zertifizierung) und im Internet unter www.sozialgesetzbuch-sgb.de.
Text: chd (POW)
Auf dem Aufmacherfoto © Christina Denk (POW) | Gruppenleiter Georgi Hauschild (Mitte) unterhält sich mit zwei jüngeren Bewohnern beim Mittagessen.
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